Kränkungen und Mobbing hinterlassen Narben – sichtbar oder unsichtbar. Besonders in der Schule erleben viele Kinder Ausgrenzung oder werden selbst zum Täter. Warum passiert das so häufig? Und wie können wir als Erwachsene vorbeugen und heilsam begleiten?
„A……… ist eine Schlampe.“ „A…… soll sich ficken“ steht da heute zum dritten Mal mit Bleistift auf die Knaben-Klotür gekritzelt. Mir stockt der Atem, als unsere Tochter mir unter Tränen zuhause erzählt, was sie heute über sich ergehen lassen musste in der Schule. Wut steigt in mir auf. Welcher kleine Feigling aus ihrer Klasse traut sich, so etwas zu tun? Wie reagiere ich darauf als Mutter?
Wenn Worte Wunden schlagen
Süße neun Jahre als ist unsere Tochter, als das in der dritten Klasse passiert. Streit unter den Mädels gab es auch vorher, die Klassengemeinschaft war aufgrund der Inkompetenz der Lehrerinnen leider nie, was sie sein sollte aber solche Ansagen – offenkundig von einem Burschen – waren neu. Als Vokabular unserer Familie definitiv nicht vorhanden. Und plötzlich schlugen diese Begriffe Wunden in eine Kinderseele, die keinen Schimmer hatte, was der Grund dafür war. (Ich verrate es dir später!)
Klassenzimmer sind nicht automatisch paradiesische Friedenszonen. Wie in der echten Welt da draußen braucht es Menschen, die sich aktiv darum bemühen und einen Rahmen dafür schaffen – dafür sind Erwachsene zuständig. Sonst passiert das, was leider in vielen Schulen Alltag ist: Kinder und Jugendliche verletzen sich, kränken einander und fügen sich seelische Stiche zu, die oft lebenslänglich spürbare Narben hinterlassen. Kränkungen sind mehr als lächerliche „Hänseleien“ und immer mehr Kinder und Jugendliche sind davon betroffen, weil es an emotionaler Kompetenz fehlt. An allen Ecken.
Was sind Kränkungen – und warum treffen sie uns so tief?
Menschen sind soziale Wesen. Unser innerster, tiefster Antrieb ist, gelingende Beziehugnen zu führen. Dafür brauchen wir andere Menschen. Eine Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen. Wo wir gesehen und gehört sind. Solche Gruppen sind unsere Familien, Freundesgruppen, Klassen, Vereine, Nachbarschaften. Wenn uns der Zugang zur Gruppe verwehrt wird, wir ausgegrenzt werden – und das passiert bei Kränkungen und Verletzungen – dann fahren wir die Ellenbogen aus. Weil wir für dieses Gefühl des Dazugehörens kämpfen wollen. Aber leider keine passenden, kooperativen Strategien haben.
Systematische Demütigungen vs. kindlicher Grausamkeit
Kränkungen treffen uns dort, wo wir besonders verletzlich sind – in unserem Selbstwert und im Wunsch, anerkannt und zugehörig zu sein. Eine spitze Bemerkung kann kurzfristig schmerzen, doch wiederholte Demütigungen, wie sie z.B. auch beim Mobbing auftreten, untergraben dauerhaft das Selbstvertrauen. Kinder reagieren je nach Alter, Temperament und Beziehungserfahrungen sehr unterschiedlich: Manche ziehen sich zurück, andere wehren sich mit Gegenangriffen – doch innerlich bleibt oft eine tiefe Verunsicherung zurück.
Täterin & Opfer. Wer unschuldig, werfe den ersten Stein.
Beschämt gebe ich zu: ich war in meiner Schulzeit auch Täterin. Und Opfer. Wir haben eine Mitschülerin in der Volksschule „Warzenbaby“ genannt, weil sie am Hals viele davon hatte. So grausam. Meine fehlende Oberweite wurde als Dreizehnjährige als „pannonische Tiefebene“ in der Klassenzeitung bezeichnet, gemeinsam mit der Empfehlung mir mal einen Rasierer zu kaufen für Haarwachstum an für Mädchen unpassenden Körperstellen. Manche dieser Sätze klingelten jahrelang in meinen Ohren und meinem Gedächtnis nach. Die gesagten und gehörten Worte. Keine schöne Erinnerung.
Kränkungen und Mobbing in der Schule – warum gerade hier?
Die Schule ist ein Mikrokosmos unserer Gesellschaft: begrenzte Räume, Gruppendruck und Leistungsansprüche treffen auf die Suche Jugendlicher nach Identität und Anerkennung. In der Pubertät wird die Zugehörigkeit zur Peergruppe existenziell – wer anders ist, fällt auf. Schnell formiert sich Gruppendynamik – manchmal mit Spott, Ausgrenzung oder subtilen Machtspielen. Diese alltäglichen Rituale greifen leise, aber wirksam – und entwickeln sich häufig zu systematischer Abwertung.
Im Fall unserer Tochter kam heraus, dass der Klotürenbeschmierer wohl eigentlich in sie verliebt war, sich das aber nicht auszusprechen traute. Um irgendwie die Aufmerksamkeit von ihr zu bekommen, packte er diese patscherte Strategie aus. Das erzählt einiges über sein emotionales Unvermögen, wie ich finde.
Die Folgen: Was Kränkungen und Mobbing mit Kindern machen
Hinter ausgelassenem Spott und Hänseleien verbergen sich oft tiefe Verletzungen: Kinder entwickeln Unsicherheiten, Angst vor der Schule oder sogar körperliche Symptome wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Langfristig leiden Selbstwert und Bindungsfähigkeit – und mitunter entsteht eine depressive Grundstimmung bis hin zu schwelenden Hassgefühlen, weil man so gern dazugehören würde. In außergewöhnlich heftiger und brutaler Form hat sich diese Woche in Graz gezeigt, wozu das führen kann. Wenn sich niemand darum kümmert, wie es Betroffenen geht. Auch wenn nicht gesichert ist, dass der Mörder Mobbing erfahren hat: irgendwelche unfassbaren Kränkungen muss es gegeben haben, wenn sie sich in so einer Tat entladen.
Die Löwenmutter und das Direktorinnenlamm
Die Klassenlehrerin unserer Tochter reagierte damals aus meiner Sicht falsch, nämlich gar nicht. Als das klar war, marschierte ich (mit Unterstützung der damaligen Schulleiterin) selbst in die Klasse und fuhr als Löwin meine Krallen aus zum Schutz unserer Tochter. Glaub mir, das hatte ich ziemlich gut drauf. Noch wichtiger als dem potenziellen Täter die Grenzen aufzuzeigen war mir, unserer Tochter zu vermitteln: Wir stehen für dich auf und beschützen dich, auch wenn es ungemütlich wird.
So gab ich vor, eine Kamera am Klo installiert zu haben, die den Täter bereits gefilmt hatte. Die Spitze eines alten Laserpointers und ein kurzes Video aus dem Bubenklo auf meinem Handy bescherten mir die nötige Glaubwürdigkeit. Meine Wut und Entschlossenheit, den Feigling aufzudecken musste ich nicht faken. Und so war der Übeltäter schnell entlarvt – kein Kind will die eigenen Eltern wegen Vandalismus und Rufschädigung im Gefängnis wissen – das hatte ich vorher samt Gesetzestext erläutert. Die sanfte Direktorin, die den „good cop“ spielte, gab noch eine letzte Gelegenheit zu beichten und da war der großgewachsene Junge plötzlich sehr kleinlaut und gab die Missetaten zu – ohne große weitere Konsequenzen. Und wir hatten Ruhe.
Vorbeugen: Damit Kinder weder Opfer noch Täter werden
Das schnelle und entschlossene Eingreifen war rückblickend wichtig. Noch besser wäre die Vorbeugung – sie beginnt im Alltag: Kinder, die lernen, ihre Gefühle zu benennen und Konflikte konstruktiv zu lösen, begegnen Herausforderungen selbstbewusster. Erwachsene sind Vorbilder – wie wir selbst in Konflikten reagieren, prägt unsere Kinder. Klar kommunizierte Werte wie Respekt oder Empathie, gemeinsam erarbeitete Familienregeln und emotionale Kompetenz schaffen eine stabile Grundlage. Wer früh Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft und Mut zur Diversität fördert, legt den Grundstein für ein respektvolles Miteinander.
In Klassen braucht es so viel soziales Lernen, angeleitet von den Klassenlehrkräften. Darum hat sich die Lehrerin definitiv viel zu wenig gekümmert (wie um vieles Andere auch). Eltern können Kinder zuhause stark, feinfühlig und emotional kompetent machen. Die große Gruppe zum Üben können wir jedoch nicht bieten. Dafür braucht es Orte wie Kindergärten und Schulen. Und fähige, gut ausgebildete Pädagog*innen, die das begleiten können. Besonders, wenn die Grundfeste vom Elternhaus mangelhaft oder nicht vorhanden ist.
Wie Eltern, Pädagog*innen und Beratende helfen können
Ein offenes Gespräch ist der erste Schritt. Zuhören ohne zu bewerten signalisiert: Du bist nicht allein. Sei achtsam für Warnsignale – das können etwa Leistungseinbrüche, Rückzug oder psychosomatische Beschwerden sein. Im Klärungsgesprächen können Fachstellen, Schule oder psychologische Beratung unterstützend eingebunden werden. Wichtig ist: Das Selbstwertgefühl des Kindes stärken – durch Wertschätzung, Bestärkung individueller Stärken und Förderung sozialer Kompetenzen. Die Gruppe darf konfrontiert werden und der Anlass für soziale Entwicklung genützt weden. Denn jede Krise ist auch eine Chance.
Die Wahrheit ist: wir kommen nicht ohne Verletzung und Kränkung durch‘s Leben. Weil wir unabsichtlich Stiche zufügen, auch den Menschen, die wir lieben. Und weil wir selbst verletzt wurden, diese Wunden schlecht versorgen und aus diesem Zustand heraus anderen weh tun. Das ist ein hässlicher und doch realistischer Kreislauf, den wir nur mit Reflexionsbereitschaft, emotionaler Kompetenz und krisenfitter Kommunikation verlassen können.
Glücklicherweise bin ich heute zufrieden mit meinem Körperbild und möchte es nicht anders haben. Ja, Körperbehaarung nervt immer noch – und ich hab einen halbwegs entspannten Umgang damit gefunden. Die Verantwortung liegt bei uns.
- Wie wollen wir darauf reagieren, was uns angetan wird?
- Welche Möglichkeiten nützen wir, leidvolle Erfahrungen zu verarbeiten?
- Wo sind die Menschen, denen wir uns trotz alledem verbunden fühlen?
Dass der Mensch fähig ist, unglaubliches Leid auch gut zu überwinden, sehen wir letztlich an dem – wohlbemerkt außergewöhnlichen – KZ-Überlebenden Viktor Frankl, mit dessen Worten ich hier abschließen möchte:
„Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“
Während ich diese letzten Worte schreibe, erreicht mich die Nachricht, dass unsere Mittlere (die, die auf der Klotür beschimpft wurde) die Matura erfolgreich bestanden hat. Ein weiterer Meilenstein erreicht, der ein Gefühl großer Freiheit für sie und ein Stück Erleichterung für uns bereit hält. Zwei Drittel der Kinder haben wir erfolgreich durch das System geschleust. Only one more to go. In vier Jahren machen wir unter das österreichische Schulsystem hoffentlich einen fetten grünen Haken, was unsere Kinder angeht.
Inzwischen schicke ich eine wohlig warme Umarmung raus an alle Eltern, die gerade ihre Kinder noch trösten oder seelische Wunden versorgen, weil sie verletzt, gekränkt, gemobbt wurden. Weil Erwachsene sie in der Schule respektlos, herabwürdigend und unfair behandeln.
Liebe Eltern: ihr seid wichtig.
Euer Trost ist wichtig.
Euer Auffangen ist wichtig.
Und hoffentlich doch ein erster Schritt Richtung Heilung.
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