Lockerungen, Erleichterungen, Aufatmen. Warum fühl ich mich gerade jetzt, wo das “Schlimmste” vorüber ist, so fürchterlich? Warum kann ich mich nicht einfach freuen, dass wieder “mehr geht”? Dass wir endlich wieder zusammen lachen, auswärts essen, gemeinsam tanzen können und das auch “offiziell” geduldet wird? Gerade nach einer Krise ist bei vielen Menschen die Luft draußen – sie können nicht mehr. Warum das so ist? Dieser Frage gehe ich heute am Blog nach und hab sechs Tipps für dich, wie du so ein finsteres Tal womöglich überwinden kannst.
DAS GANZ NORMALE LEBEN
Ich war kürzlich mit einer lieben Freundin abends lecker essen. Einer der ersten lauen Sommerabende, ein angenehmer Sitzplatz draußen und rund um uns das Treiben der belebten Innenstadt. Es kamen fast schon Urlaubsgefühle auf, so schön war das. Und in dem Moment hab ich erst gemerkt, wie sehr ich das tatsächlich vermisst hab, in den vielen Monaten zuvor. Zwar nicht das Gastgarten-Sitzen im Jänner aber das ganz “normale” Leben.
WARUM JAMMERN WIR HIER?
Die Leichtigkeit und Unbeschwertheit sind aber längst keine Selbstverständlichkeit. Ich beobachte derzeit, dass es vielen Menschen so geht, dass sie jetzt in ein Loch fallen, die Nerven verlieren, ausgelaugter sind als im Lockdown und darüber hinaus die Welt nicht mehr verstehen, weil: jetzt haben wir’s doch geschafft, oder? Wieso jammere ich?! Sollt es mir nicht eigentlich gut gehen?
Besonders, wenn wir vermeintlich “wenig” Schaden davon getragen haben, nicht oder nur leicht erkrankten, keine existenziellen Sorgen haben und “eh immer so viel möglich war”, wie neulich ein junger Pharmaziestudent voller Unverständnis zu mir gemeint hat.
WARUM GERADE JETZT?
Wem’s “gut” geht, der darf sich also nicht schlecht fühlen? In einem spannenden Gespräch mit meiner Gynäkologin war das neulich auch Thema. Sie meinte, ihre Patientinnen, die teilweise schwere Schicksalsschläge ertragen, Krankheiten erleiden oder andere Diagnosen bekommen, DENEN geht’s schlecht. Aber doch nicht uns, die Haus und Garten haben und arbeiten gehen dürfen und sowieso irgendwie privilegiert sind.
Nun ja. So einfach ist das eben nicht. Denn niemand auf der Welt ist vor Krisen, Depressionen oder einfachen Talfahrten im Leben gefeit. Das psychische Empfinden hängt nicht immer unmittelbar mit gesellschaftlichem Status, Besitz oder Bildung zusammen. So weit, so logisch. Doch warum gerade jetzt, wo doch alles lockerer wird?
BEIM LOSLASSEN DEN HALT VERLIEREN
Die Psychologie hat einen Namen (oh, welch Überraschung) für dieses Phänomen, es nennt sich Entlastungsdepression. Während manche Menschen in der Phase der Anspannung und Überlastung psychische Erkrankungen entwickeln, ist das bei anderen genau umgekehrt. Sie trifft es nachher, wenn die Spannung weniger wird und der Druck sinkt. Wenn man so lange funktioniert hat und alles menschenmögliche getan hat, damit die Dinge weiter laufen. Wenn diese enorme Belastung geschafft ist, dann kann man loslassen und dabei verlieren Menschen auch vorübergehend den Halt.
Falls du dich selbst auch gerade so fühlst, hab ich sechs kleine Tipps für dich, die dir durch diese Talsole helfen können. Besonders hervorheben möchte ich Nr.4, denn kein Blog, kein Zeitungsartikel oder Selbsthilfebuch kann eine kompetente, fachliche Unterstützung ersetzen.
1. VERSTÄNDNIS
Es ist, wie es ist. Wenn es dir jetzt nicht gut geht, erkenne das an und versuche, es zu akzeptieren. Wer mit der Realität streitet, ist immer der Verlierer, heißt es. Und auch wenn es für andere oder dich selbst völlig unsinnig erscheint, dass es dir ausgerechnet jetzt schlecht geht:
DU hast Recht. Wenn DU dich so fühlst, ist es für dich wahr. Und mit dir ist immer noch alles richtig. Der Mensch (und vor allem die Psyche) ist ein Phänomen und jeder ist verschieden. Sei freundlich zu dir selbst, damit hilfst du dir tatsächlich weiter.
2. ANDANTE MIT PAUSEN
Du hast vielleicht jetzt monatelang auf verschiedene Dinge verzichtet: geliebte Lauftreffs, live Yogastunden, die Musikproben, Mädelsabende, deinen Stammtisch oder das Bürogeplänkel am Arbeitsplatz.
Das macht sich bemerkbar und fehlt, weil wir weniger auftanken konnten. Vor lauter Funktionieren hat man nicht Zeit gehabt: zum Anhalten, Durchatmen, Pause machen.
Pausen gehören zum Leben, wie zur Musik. Die letzten Monate waren ein einziges “Presto”, eine Note nach der anderen, in schneller Geschwindigkeit. Die meisten von uns können jetzt ein “Andante” gebrauchen: gemächliches, schreitendes Tempo und vor allem: großzügige Pausen.
3. GEDULD
Besonders, wenn wir krank sind, uns schlecht fühlen, traurig sind oder Beschwerden haben, wünschen wir uns, dass es bitte, bitte schnell vorbei geht. Darum boomen auch Pulverchen, Tabletten und Wundermittel, die versprechen, uns auf Knopfdruck einfach wieder herzustellen. Liebe Grüße an Dr. Böhm, der am liebsten jeden Morgen durchs Radio ein paar Tabletten servieren würde.
Ja, manchmal braucht es auch gute Arznei. Und was wir auch brauchen, ist Geduld. (#notetoself) Weil Heilung und Regeneration Zeit brauchen. So wie ein Handyakku eben seine Zeit benötigt, um 100% zu erreichen, du an der Zapfsäule nicht schneller tanken kannst auch wenn du’s eilig hast, und es halt dauert, bis ein guter Kuchen schön aufgeht. Und vielleicht gelingt es dir, neu zu lernen, geduldig zu sein. Und es auch ein bisschen zu genießen.
4. HILFE HOLEN
Egal, wie schlecht es dir gehen mag. Du brauchst es nicht allein auszuhalten. Es gibt Hilfe, die du dir holen kannst und holen darfst und holen sollst. Allein im dunklen Tal zu wandern ist allemal trauriger und deprimierender als mit jemandem an der Seite. Der Weg wird dadurch nicht unbedingt kürzer, aber möglicherweise ein bisschen heller und wärmer.
Lass dich aufrichten – von Familie, Freunden, Menschen, die’s gut mit dir meinen oder jenen, die das professionell machen und können. Sei dir sicher: Da ist jemand. Und er oder sie ist nur einen Anruf entfernt.
5. SELBSTFÜRSORGE
Ich weiß: selbst dazu fehlt dir oft der Antrieb. Und auch auf der Couch liegen und nix tun, kann selbstfürsorglich sein, ein einfaches Telefonat mit einer Freundin, oder Ohrstöpsel rein und Musik an. Und wenn das alles nicht angenehm klingt, frag dich doch: WAS möchte ich denn gern jetzt tun? Und schau, was sich machen lässt.
Wenn du ein erwachsener Mensch bist, übernimm diese Verantwortung, schau und achte auf dich selbst. Sonst macht das womöglich niemand.
6. EIN GUTER TAG
Wenn das Tal, in dem du gerade wanderst, sehr finster ist, dann ist es eventuell schwer, einen Lichttupfer zu erkennen. Doch wenn du am Ende eines Tages fünf Minuten Zeit verwendest, um darüber nachzudenken: “Was war heute gut?” , dann bin ich überzeugt, dass du irgendetwas findest, auch wenn diese Sache noch so einfach ist. Dankbarkeit ist Übungssache und kann gelernt werden. Und ich bin fast sicher, dass du auch ehrlich dankbar bist, falls du …
… ein Dach über dem Kopf hast.
… heute zu essen bekommen hast (oder selbst gekocht hast).
… den Luxus von fließendem Wasser (in Trinkqualität) kennst.
… einen Menschen hast, den du magst.
… jemanden kennst, der dich mag.
… geatmet hast und überlebt hast.
UND DANN …
Und dann, wenn du durch dein Tal gewandert bist, so lange wie es eben für dich gebraucht hat, dann kommt die Leichtigkeit und Lebensfreude auch wieder zu dir zurück. Dann wirst vielleicht auch du wieder fröhlichen Herzens an lauen Sommerabenden durch eine belebte Innenstadt schlendern und da vielleicht zwei Freundinnen sitzen sehen, denen das Essen vor lauter Quatschen kalt wird. Und all die anderen Menschen, die sich gerade ihres Lebens freuen.
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