„Ich bin eine Zumutung!“ Das hat kürzlich ein reichweitenstarker deutscher Influencer geantwortet auf die Frage, warum er keine Freundin habe. Bis dato gab er allerhand – durchaus kluge – Sachen zum Thema Beziehungen und Beziehungsfähigkeit von sich. Man hatte immer das Gefühl: „Der hat die Beziehungsweisheit mit dem Löffel gefressen.“ Derweil liegt er meilenweit daneben und hat gleichzeitig recht. Ich erklär‘s dir.
Beziehung als Belohnung?
„Ich hab gedatet, ohne zu wiessen wie gesunde Beziehungen wirklich gehen. Wir alle stecken fest in einer Aneinanderreihung immer schlechterer Dates und ungesund werdenden Beziehungen. Mir fehlt selbst das Wissen, wie man Beziehungen führt, wie man auf gesunde Art Konflikte löst. Das ist fahrlässig. Grob fahrlässig.“
Er trifft einen Nerv mit seiner Aussage. Denn ob wir es zugeben wollen oder nicht: Wir alle sind in einer Form eine Zumutung für andere. Unvollkommen. Unfertig. Überfordert.
Doch die Wahrheit, die kaum jemand ausspricht: Beziehung war nie gedacht als Belohnung für fertige Menschen. Beziehung ist der Raum, in dem wir Beziehung lernen. In dem wir wachsen und uns entwicklen – wie alle Fähigkeiten, die es für erfolgreiche Beziehungen braucht. Beziehung ist der Weg des Wachstums, nicht das Ergebnis dieser Kompetenzen.
Beziehung braucht MUT. Nicht Perfektion.
„Ich date erst wieder, wenn ich weiß, wie man eine Beziehung führt.“ sagt der Influencer. Was irgendwie verständlich klingt, ist ein fataler Trugschluss.
Denn Beziehungsfähigkeit lernt man nich im Kopf. Nicht in Büchern. Oder im stillen Kämmerlein. Sondern: im Kontakt. In der Reibung. Im Spiegel der anderen.
Es ist kein Kurs, den man erst erfolgreich bestanden haben muss oder eine Leistung, die zu erbringen ist. Beziehung ist ein Lernfeld.
Und JA: das ist eine zu-MUT-ung. Jede Person, die es wagt, echte, tiefgreifende, verbindliche Verbindungen einzugehen braucht eine Menge MUT. Weil es eben nur mit anderen Menschen möglich ist, zu lernen, was wir im Umgang mit anderen Menschen brauchen. Somit ist es auch eine ZuMUTung. Für dich. Für mich. Für alle.
Die Illusion vom fertigen „Ich“
Ehrlicherweise sehe ich die Zukunft für den wortgewandten Herren trüb. Denn diese Zurückhaltung hat Folgen. Menschen gehen aus verschiedensten Gründen keine Beziehungen ein. Manche brauchen Zeit und Raum, um vorher Erlebtes erstmal zu verarbeiten. Viele danken aber vielleicht:
- „Ich will niemanden verletzen, ich muss erst an mir arbeiten.“
- „Ich will diesen Schmerz nicht mehr fühlen, wenn es wieder schief geht.“
- „Ich muss mich erst komplett selbst lieben, bevor ich das von jemand anderem verlange.“
Und ja. Du wirst die beste Wertschätzung eines Gegenübers nicht gut annehmen können, wenn du dich selbst bei jeder Gelegenheit in Grund und Boden redest (oder denkst). Du wirst dich auch nicht von jemand anderem geliebt fühlen können, wenn du dir selbst nur mit Abscheu begegnest. Und du wirst höchstwahrscheinlich nicht respektvoll behandelt werden, wenn du dich selbst permanent in den Schatten stellst.
Doch je länger du dich zurück ziehst, desto weniger wirst du lernen, wie Beziehung wirklich funktioniert. Und desto größer wird der Abstand zwischen dem Menschen, der wir sind – und dem Menschen, der wir glauben sein zu müssen, um „beziehungsfähig“ zu sein.
Was wir über Beziehung wissen müssen, lernen wir in Beziehung.
So wie du Schwimmen nicht in deinem Wohnzimmer lernst (außer dort ist ein Indoor Hallenbad). Sondern indem du ins Wasser gehst, dich mit dem Element vertraut machst, untergehst – auftauchst – atmest und weitermachst. Niemand verlangt von Nichtschwimmern, dass sie im tosenden Meer ihre ersten Tempo machen. Wir sorgen für einen überschaubaren Rahmen, ein langsames Herantasten und ganz viel Anleitung samt guten Strategien von erfahrenen Trainerinnen.
Das machen wir auch in Beziehungen. Wir heiraten nicht vor dem ersten Date (außer in fragwürdigen TV-Shows), gründen gleich noch eine Firma zusammen und übernehmen die Verantwortung für Haus samt Kredit und drei Kindern. Was dem Schwimmen im stürmischen Meer gleichkommen könnte. Wir lernen uns kennen, verbringen mehr und mehr Zeit zusammen und lernen voneinander. Was von uns übrig ist, wenn alles weggeschält wird, was so an Fassade und gesellschaftlichen Masken aufgetragen wurde.
Das Unvermeidliche. (Was der Influencer noch nicht weiß.)
Der Influencer spricht in dem Video davon, erst wieder zu daten, wenn er weiß, was er da tut und keine Zumutung mehr ist, weil er sich weiterentwickelt hat.
Damit er niemandem mehr wehtut mit seiner mangelnden Beziehungsfähigkeit. Was er noch nicht weiß: auch erfolgreiche Beziehungen funktionieren so nicht.
Es gibt KEINE Möglichkeit, wie wir Beziehung leben, ohne der Gefahr zu verletzen oder selbst verletzt zu werden. Denn Nähe macht verletzlich. Nicht, weil wir das so wollen. Sondern weil wir Menschen sind, lebendig und fehlerhaft. Es passiert uns – meist ohne böse Absicht. Drum haben so viele Menschen Angst davor, sich fest zu binden: die Chance einer tiefen, intimen, echten Verbindung gibt es nicht ohne dieses Risiko.
„Cause we‘re young and we‘re reckless. We‘ll take this way to far. It‘ll leave you breathless – or leave a nasty scar. Got a long list of ex-lovers. They‘ll tell you I‘m insane.
Taylor swift – blank space
But I‘ve got a blank space, baby. And I’ll write your name.“
Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen Verletzlichkeit und Fahrlässigkeit. Menschen, die vortäuschen, manipulieren oder berechnend sind – nur um eigene Vorteile zu haben – sollten Warnschilder tragen. Damit diejenigen, die es ernst meinen, sich zeigen und offenherzig in Verbingungen gehen, nicht von ihnen ausgedämpft werden. Den Mutigen gehört die Welt. Es sind die, die sich immer wieder trauen, sich einzulassen, verletzlich zu zeigen und alte Muster hinter sich begraben wollen.
Die Verantwortung liegt nicht darin, perfekt zu sein. Sondern darin, ehrlich zu kommunizieren. Konflikte nicht zu vermeiden, sondern mit viel Know-How zu gestalten und zu managen. Nicht besserwisserisch zu sein und zu wirken, sondern echter und aufrichtiger zu sein. Mit sich selbst UND dem Gegenüber.
Das klingt alles viel schöner als es in der Realität tatsächlich ist. Beziehungsarbeit ist oft auch anstrengend, mühsam, von Missverständnissen geprägt. Wir sind gefordert, unbequeme Wege zu gehen und kurzfristig Enttäuschung zu erleben, damit wir langfristig zufriedener sein können.
Beziehung = die ehrlichste Weiterbildung deines Lebens.
Stell dir vor, Beziehung wäre ein Masterstudium. Es ist nicht nur sehr viel Theorie und fundiertes Wissen notwendig, um richtig gut darin zu werden. Vor allem braucht es, damit es auf das Leben einen Sinn ergibt, einen Transfer in den Alltag.
Es gibt keine Prüfungen vor Kommissionen, denn du lernst bei jedem Gespräch
- wie du wirklich zuhörst.
- Wie du dich zumutest – ohne dich zu verlieren.
- Wie du bleibst, auch wenn es unbequem wird.
Das Leben hört glaub ich nie auf, uns kleine Prüfungen zu schicken. Die uns Auskunft darüber geben, wie viel wir wirklich schon gelernt haben. Wo wir vermutlich noch etwas Nachhilfe brauchen. Weil wir ziemlich sicher NIE auslernen und somit bleiben, wie wir sind: menschlich, lebendig und ausbaufähig.
So wünsche ich dem Influencer im immer schwarzen T-Shirt die Erkenntnis, dass er sich nicht bis zum Umfallen optimieren muss, bevor es in einer ernsthaften Beziehung klappen kann. Und das Vertrauen und das Glück, ein Gegenüber zu finden, mit dem solche Lernerfahrungen möglich sind. Selbst so gut wie garantiert ist, verletzt zu werden oder selbst zu verletzen. Denn: in erfolgreichen Beziehungen gibt es auch Versöhnen und Verzeihen, Reparatur von schlechtem Benehmen. Auch wenn es nicht leicht ist – es ist definitiv möglich.
Das alles braucht MUT. Und es ist genau das, was die Welt heute so bitter nötig hat.
Menschen, die sich trauen, unfertig zu lieben.
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