Reisewarnung für Schubladistan

Es gibt ein Land, das existiert nur in unseren Köpfen und wir alle sind wohl schon mal dort gewesen. Weil wir Menschen nach verschiedenen Kriterien, ihrer Gesinnung, dem Aussehen, ihrer Religion, einer Haltung, ihrem Geschlecht, sexueller Neigung, dem Alter, … – bewertet haben und dann in eine Schublade gesteckt haben. Das ist Schubladistan. Ich versuche hier zu erklären, warum es für dieses Land eine Reisewarnung geben sollte.

SEHNSUCHT NACH ORDNUNG

Menschen wollen vielmals Ordnung schaffen, um Sicherheit zu gewinnen, um Orientierung zu bekommen und Einfachheit in ihre – unsere – hochkomplexe Welt zu bringen, die – JA, ehrlich gesagt – immer schwerer zu verstehen oder gar durchschauen ist. Deswegen versucht man daheim aufzuräumen, jedem Ding seinen Ort zu verpassen und in Kästen oder Schubladen zu verstauen, was so im Alltag Teil unseres Lebens ist.

Was mit Gegenständen noch relativ unverfänglich ist und manchmal sinnvoll und schön (aufräumen, bzw. in ein schön aufgeräumtes Zimmer gehen), machen wir aber auch mit anderen Dingen im Leben. Nein, eben nicht mit Dingen, sondern mit Menschen. Wir haben innere Bilder und Zuschreibungen für bestimmte Personen(gruppen) usw. und stecken sie in die jeweilige Schublade, natürlich vergessen wir nicht drauf, auch noch unsere Bewertung dazu zu packen.

Daumen hoch. Oder Daumen runter. So einfach geht das.

Dass es allerdings längst nicht so einfach ist, zeigt eine jüngst entbrannte Debatte in der bedürfnisorientierten (BO) Elternszene, die mit rechts-außen Gedanken in Verbindung gebracht wurde. Was Schlimmeres kann man manchen BO Eltern gar nicht nachsagen. Daher hab ich mir für diesen Blog ein paar Schubladen ausgesucht, die man in Schubladistan wohl aktuell findet und wo wir alle zusammen mal “raus denken” sollten. #thinkingoutsidethebox 

Schublade: HAUSFRAUEN od. HAUSMANN

Hausfrauen sind einfältige und unterdrückte weibliche Wesen, die von dominanten Partnern vom Arbeiten abgehalten werden und zu faul sind, ihre Karriere aufzumöbeln. Hausmänner sowieso.

Schon mal überlegt, dass es Frauen geben mag, die die Kümmerarbeit (Care) in der Familie gern erledigen und davon auch total erfüllt und zufrieden  sind, dass diese trotzdem weltoffen und gebildet sein können und eine ebenbürtige, gleichwürdige Partnerschaft leben? Dass die sich sehr wohl für den eigenen Beruf und Selbstverwirklichung interessieren, aber vielleicht nicht in dem Ausmaß und lieber mehr Zeit und Energie für die Familie aufwenden als für den Spagat in der Doppelbelastung.


Schublade: FEMINIST(IN)

Feministinnen sind männerfeindliche Furien, die sich nicht für Kinder und Familie interessieren und aus ihrer Opferrolle als Frau nicht heraus kommen, eigentlich nur mal einen richtigen Mann “brauchen” und das macht sie frustriert und verbittert und somit frei von Humor und Leichtigkeit.

Schon mal überlegt, dass es bei Feminismus erstens um Gleichberechtigung geht und man auch als Mutter und Hausfrau feministisch sein und denken kann? Feministinnen brauchen nicht zwangsläufig eine steile Karriere, einen Ehemann “unterm Schlapfn” (wie man gut oberösterreichisch sagt) oder ein humorloses Leben, es gibt auch entspannte, lustige überzeugte Feministinnen (und Feministen: das wär nochmal eine eigene Schublade: Frauenversteher, Einschleimer, Weichei und so. NOT!!)

Schublade: VERSCHWÖRUNGSANHÄNGER

Verschwörungstheoretiker sind extrem und durch ihre mangelhafte Information und den Hang zum Unwissenschaftlichen leicht zu blenden, sie fühlen sich stets als Opfer und von aller Welt belogen und betrogen. Und Nazis sind sie auch allesamt, siehe Berlin.

Schon mal überlegt, dass es Menschen geben mag, die allgemein gültige Mainstream Meinungen hinterfragen und sich für Hintergründe und Unausgesprochenes interessieren. Die vielleicht zurecht kritisch nachhaken und einfach nur der Wahrheit ein Stückchen näher kommen wollen und nicht gleich alles fressen, was Medien ihnen servieren? Nur, weil man mit aktuell öffentlicher Meinung oder Meinungsmache nicht konform geht, heißt das nicht, dass man ein tölpelhafter Ignorant ist und Wissenschaft grundsätzlich ablehnt.

Schublade: BINDUNGSORIENTIERTE ELTERN

Bindungsorientierte Eltern sind überbehütende, verweichlichte Mütter und Väter, die ihre Kinder nicht loslassen wollen und sie verziehen indem sie ihnen jederzeit jeden Wunsch von den Augen ablesen und ihnen nie zeigen, wie hart die Welt da draußen ist.

Schon mal überlegt, dass auch bindungsorientierte Eltern ihre Kinder früh in Fremdbetreuung geben können, sich gerne selbst verwirklichen und Kinder gerade durch die bedürfnisorientierte Begleitung auf die “harte Welt” vorbereiten? Dass bindungsorientierte Eltern sowohl Impfbefürworter sein können als auch rechtsextrem oder linksextrem politisch gesinnt? Es gibt bindungsorientierte Karrierefrauen und bindungsorientierte Helikoptermütter und alles dazwischen, weil Bindungsorientierung eben nur eine Facette ihres Menschseins ist. 

Schublade: IMPFKRITIKER

Impfkritiker sind ignorant und esoterisch angehaucht, sie verleugnen die Wissenschaft und gefährden wissentlich und absichtlich andere Bevölkerungsteile, außerdem sind sie unbelehrbar und können nicht sachlich diskutieren.

Schon mal überlegt, dass Impfkritiker sich sehr wohl wissenschaftlich mit dem Thema befasst haben, nur andere Studien kennen (nach dem Motto: trau keiner Studie, die du nicht selbst gefälscht hast), dass sie andere keineswegs gefährden wollen aber die eigene Gesundheit wichtiger empfinden und jedem seine freie Meinung dazu lassen können, was ein pro oder kontra Impfung betrifft? Es gibt Impfkritiker, die mehr zu dem Thema wissen als durchschnittliche Hausärzte und es gibt Impfbefürworter, die noch nie einen Beipackzettel einer solchen gelesen haben. Und wie so viele Themen ist auch dieses herrlich emotional aufgeladen und darf gerne sachlich UND emotional debattiert werden. 

Schublade: CORONALEUGNER

Coronaleugner sind Dummköpfe, die keine Gefahr erkennen und sich wegen der unsicheren Zeit einfach wehren gegen diese neuartige Bedrohung, sie können nicht mal ein bisschen auf ihre persönliche Freiheit zugunsten der Allgemeinheit verzichten und rebellieren wegen Nichtigkeiten wie Maskenverordnungen.

Schon mal überlegt, dass man sehr wohl in Frage stellen kann, wie sinnvoll etwaige verordnete Maßnahmen sind und die Gefährlichkeit des Virus versucht zu erfassen, sich mit Zahlen beschäftigt und nicht mit Esoterik und am Ende weder Leugner noch Regierungsfan sein könnte?

Es gibt tausende solcher Boxen in Schubladistan und wir versuchen dauernd, Menschen darin einzuteilen.

Raus aus der einen Box, rein in die andere. Was in anderen Schubladen – vielleicht sogar gegensätzlichen – passiert, ist grundsätzlich verkehrt und falsch. Ich hab hier nur ganz wenige beschrieben, doch für alle möglichen gilt:

ACHTUNG, REISEWARNUNG!!!

Ich spreche hiermit eine Reisewarnung aus. (Note to self:) Begib dich nicht so oft nach Schubladistan, sondern versuche, dir eine innere Ampel (oh, sorry für den Querverweis: Bei Ampelphobie geht auch ein Glöckchen ;-)) zu installieren, die dich blinkend warnt, wenn du das Land von Festschreibungen, Beurteilungen, Kategorisierungen und Bewertungen in Gedanken betrittst.

WARUM?

Weil es dich und uns alle in unseren Möglichkeiten aufeinander zu zu gehen schmälert.
Weil wir Toleranz und Akzeptanz brauchen für ein menschliches Miteinander.
Weil wir uns dort klein machen und abkapseln statt gemeinsam stark zu sein.
Weil Unterschiedlichkeit und Diversität ein Gewinn ist für alle und kein Ausschlussgrund.
Weil das “sich-aus-der-Box-denken” ein enormes Lern- und Entwicklungspotenzial bietet.
Weil es Sicherheit dort nur vermeintlich gibt und du sie wenn dann mit deiner Freiheit bezahlst.
Weil wir Brücken bauen sollten, als uns voneinander abzuschotten.
Weil wir uns dafür interessieren sollten, wie andere Menschen denken und warum.

Auch wenn uns manchmal – oder immer öfter – das Verständnis für den jeweils anderen Zugang, eine Meinung, ein Lebenskonzept, eine Beziehungsphilosophie oder pädagogische Strategien fehlt, wir brauchen das MITEINANDER und FÜREINANDER. Strenge Schubladen verhindern das. Wir sind nicht alle gleich. 

Nicht alle Mütter sind gleich. 
Nicht alle Feministinnen sind gleich. 
Nicht alle Vorgesetzten sind gleich.  
Nicht alle *you name it* sind gleich. 
Glücklicherweise. Es lebe die Vielfalt!

Gewidmet allen feministischen Hausfrauen, impfkritischen Kinderärztinnen, bindungsorientierten Karrieretypen, homosexuellen Fußballprofis, abergläubischen Buchhaltern, temperamentvollen Skandinaviern und unterkühlten Südländern, religiösen Börsenmaklerinnen, wissenschaftlichen Verschwörungsliebhabern, esoterischen IT-Nerds, …

… und, wen hab ich vergessen? Ergänze gern in den Kommentaren!

Kommentar schreibenKommentare: 4

  • #1Lisa (Freitag, 25 September 2020 11:05)Genial geschrieben. Bitte mehr davon!
  • #2Monika Schubert (Sonntag, 27 September 2020 13:43)Schublade ALTERSSTARRSINNIGE
    Altersstarrsinnige sind festgefahren, untollerant, demenzanfällig…Schon mal überlegt,dass man nach längerer Lebenszeit auch Erfahrungen gesammelt hat, auf die man zurückgreifen kann. Sich nicht mehr von jedem Mainstream überrollen lässt und sich nicht mehr ständig optimieren will. Eigene Grenzen kennt und sie auch verteidigt.
    Trotzdem gefällt es mir, wenn ihr den Mut habt Grenzen aufzubrechen und neue Wege wagt.
    In diesem Sinn: “Nur weiter so!”
  • #3Kerstin Bamminger (Montag, 28 September 2020 09:19)Monika, vielen Dank! Das Alter hat definitiv Vorteile und ich find auch, dass oft jüngere Menschen starrsinniger und konservativer sein können als Ältere. Es ist Vieles keine Frage des Alters, sondern eine Frage der Haltung! 😉
  • #4Corinna (Montag, 28 September 2020)Genial geschrieben! Und vielleicht regt es den einen oder anderen an, auch mal die Scheuklappen und Masken abzunehmen und den Horizont zu erweitern 😉
  • #5