Oft weiß man als Eltern nicht, wann man mit dem Kind etwas “das letzte Mal” macht. Das letzt Mal stillen, wickeln, füttern, einschlafbegleiten, im-gleichen-Bett-schlafen, … – viele finale Kapitel elterlichen Tuns gehen fast unbeachtet über die Bühne, weil plötzlich der nächste Schritt gegangen wird.
Diese Woche – und das ist ziemlich gut kalkulierbar – geht für mich eine Ära zu Ende.
Nach zehn Jahren wird das geliebte tägliche zu-Fuß-in-die-Schule gehen der Geschichte angehören.
Was wir alles erlebt haben auf diesen etwa 2000 Schritten jeden Morgen, erzähl ich dir heute.
Vorsicht: nicht weiterlesen, wenn du weiterhin dein Kind mit dem Elterntaxi chauffieren möchtest. Es könnte sein, dass ich dich begeistere, zu Fuß zu gehen.
Bevor ich damit anfange, aber noch ein Wort.
“Meine Kinder, es war eine unglaublich schöne Zeit, die wir gemeinsam erlebt haben. Anfangs mit Kinderwagen und allerlei Gefährten als Hilfe, mit netten Wegbegleiterinnen oder allein: ich hab jeden Schritt an eurer Seite geliebt und genossen. Ich hab gerne die oft schwere Schultasche geschleppt als Motivationsdienst und euch getragen, wenn es zu viel wurde für die jungen Beine. Ihr hattet Zeit, euch umzustellen von “Daheim” auf “Kindergarten” oder “Schule” und konntet vielleicht den Umstieg in die jeweilig andere Welt besser verkraften als durch eine 5 Minuten Autofahrt. Ich bin überzeugt, nicht nur euch sondern auch mir etwas Gutes getan zu haben mit diesen morgendlichen 20 Gehminuten, die so viel mehr sind und waren als “einfach nur gehen”, weil es so viel zu erleben gab.”
33 Dinge, die man am Fußweg zur Schule erleben kann:
- die buntesten Himmelsfarben des Morgenrot bewundern, das Grün der Blätter einatmen und beobachten, wie sie sich im Jahreskreis verfärben, abfallen und wieder austreiben
- die Schritte zählen und dabei siebzehn mal unsicher sein, ob man sich nicht doch verzählt hat
- über den Zebrastreifen gehen wie die Beatles (und dabei Musikgeschichte diskutieren)
- die aktuellen Ohrwürmer der Kinder gemeinsam trällern – von Mai Cocopelli über Beatles, Springsteen, AC/DC … je nach Jahreszeit und Stimmung war so ziemlich alles dabei
- alle Schultaschen der Kinder im Expeditionswagen transportieren (Aufgabe der Eltern) und den Weg in eine Parcouring Strecke verwandeln, sodass schon vor dem ersten Läuten “turnen” war
- im Matschgewand in alle Pfützen springen (als Eltern empfiehlt es sich, den nötigen Abstand einzuhalten) und danach mit Gummistiefeln deren Tiefe messen
- in der kalten Jahreszeit gefrorene Spinnennetze an der Traunbrücke bestaunen und dem Knirschen des frisch gefallenen Schnees unter den Schuhen zuhören (Musik in den Ohren von Winterfans)
- den Baufortschritt verschiedenster Projekte täglich aus nächster Nähe beobachten (z.B. Salzstaldn) und mitansehen wie baufällige Häuser mit neuem Leben erweckt werden, Grünflächen zubetoniert werden, historische Gebäude in Schutt & Asche gelegt werden (Flachsspinnerei) und dabei über Oberflächenversiegelung debattieren
- bei diesen Baustellen tätige, spektakuläre Baumaschinen fachmännisch benennen (und dann wegen zu langer Beobachtung derselben zu spät zur Schule kommen)
- zweistimmig Pizzera & Jaus “Kaleidoskop” singen und damit die Bewohner am Weg beglücken
- zu zweit mit dem Roller fahren und es “Schulbus” nennen (einer läuft ein Stück voraus, stellt sich an den Wegrand = Bushaltestelle und wird dort vom “Bus” abgeholt)
- mit diesem Roller einen kapitalen Sturz hinlegen und dabei auf das Kind drauf fallen
- Streckenabschnitte mit Fantasienamen kennzeichnen (z.B. Schneckenfriedhof … dabei über das grausame Massensterben von Nacktschnecken sinnieren)
- die Freundinnen am Weg aufgabeln und wuseliges Geplapper bis zur Schule anhören (Erwachsene: mit der Mama dieser Freundinnen das eigene Feldwebelgehabe vor dem Außer-Haus-gehen analysieren und sich gegenseitig mütterliches Fehlverhalten eingestehen und einander danach beruhigen – es ist halt irgendwie überall gleich)
- ungestörte und kostbare Einzelzeit mit dem Kind genießen = Beziehungsgestaltung pur
- zusammen schweigen und den Morgenmuffel raus hängen lassen
- jeden Tag ein Stück Müll aufheben und zum nächsten Mistkübel bringen (das macht in diesen Jahren dann rund 1800 Dosen / Papierl / Becher / Verpackungen …pro Person!)
- sich bei deftigen Minusgraden den Allerwärtesten abfrieren und die dabei sichtbar werdende Atemluft cool als “rauchen” definieren (das kenn ich noch aus meiner Kindheit)
- am Weg allen Menschen freundlich (und möglicherweise mit einem Lächeln) “griaß di” zurufen
- bei orkanartigem Wind versuchen, wie Mary Poppins mit dem Schirm abzuheben (und dabei den Regenschirm ruinieren)
- verschiedenste Vogelstimmen am Weg hören und versuchen zuzuordnen
- das Zupassen mit dementsprechenden Steinen vom Wegrand üben – schafft der Stein es bis zur Schule?
- Eiszapfen von Autos oder Brückengeländern abbrechen und bestaunen (und vielleicht mal dran lutschen, wenn Mama nicht hinsieht – gutes Immuntraining, übrigens!)
- die neuesten Klatschgeschichten vom Kind erfahren und darüber diskutieren
- noch schnell das Gedicht für die Schule auswendig lernen (Bewegung & Sprache lässt sich prima und vorteilhaft kombinieren) – dabei den Sprechrhythmus an die Schritte anpassen
- vor Liebe taumeln, weil das Kind seine Hand immer noch beim Gehen in deine legen will
- die eigene Wut (oder die des Kindes) mit jedem Schritt in den Boden stampfen
- vorgeben, ein kleiner Hund zu sein, der vom Kind Gassi geführt werden muss (die Nachbarschaft hält mich sowieso für eine Verrückte, also was soll’s) inklusive Gebell, Bein heben und treuherzigem Blick beim Hecheln
- vorauslaufen, sich in einer Ecke verstecken und die anderen höllisch erschrecken wenn sie herankommen
- nicht auf Risse im Asphalt oder Fugenlinien treten – wer’s tut, stirbt klarer Weise
- sämtliche Käfer und Insekten sorgsam “umgehen” und so Zeit vertrödeln, weil man nicht zur Schule gehen mag
- ZÄHLEN! und zwar alles mögliche: Zigarettenstummel auf dem Weg (wir zählten mal rund 280), Autos, die vorbeifahren, (Brücken-)Geländerstäbe, Leitpflöcke, Häuser, … – was immer Spaß macht
- Klima schonen und sparen! Laut einer Berechnung sind das: Eingespartes CO2 (kg) 1589.76 kg, eingesparte Fahrtkosten 2592€, Vermeidung von Umweltkosten 216€, Vermeidung von Unfallfolge- und Staukosten: 1224 € (wow, wir sollten auf Urlaub fahren für dieses Geld!)
Gratuliere, du hast es bis hierhin geschafft beim Lesen!
Morgen hat das jüngste Kind hier Radfahrprüfung und wird somit zukünftig lieber mit dem Drahtesel den Weg bewältigen, statt an meiner Seite zu Fuß.
Es ist ein Stück Loslassen und Abschied nehmen und erfordert eine Anpassung der Morgenroutine an neue Verhältnisse.
Ich möchte dir sagen: nütze die Zeit & Gelegenheit, deine Kinder zu Fuß zu begleiten und wenn du zu weit weg wohnst, geht zumindest die letzten 10 Minutuen zusammen (Stichwort Elternhaltestellen)!
Es zahlt sich aus und das Zeitfenster schließt sich irgendwann, wo diese Begleitung gewünscht ist.
Und dann gehst du – wie ich gestern – zum letzten Mal mit … und bist dankbar dafür, dass du rund 300.000 Schritte ganz dicht neben ihnen gehen durftest.
P.S: der Junior hat mein leidvolles Gesicht gestern bemerkt und gesagt (“Vielleicht regnet’s ja mal voll, dann gehen wir noch einmal, ja Mama?!”)
Wie süß ist das denn bitte??!!!!
Kommentar schreibenKommentare: 4
- #1dein Papa (Donnerstag, 28 Mai 2020 12:22)schade das ich das mit euch 5 Mädels nie gemacht habe, sehr berührend, du bist eine ganz tolle Mama ich bin stolz das deine Kinder dich haben.
- #2Gerlinde (Donnerstag, 28 Mai 2020 14:30)Sehr schön, wie du in liebevoller Begleitung deine Kinder am Weg zur Schule und früher zum Kindergarten begleitet hast. – sehr schöne lustige 33 Ideen, in einigen Ideen finden wir uns auch – zum Beispiel beim beobachten der Bauarbeiten, Sammeln vieler Naturmaterialien- das ist immer was spannendes.
Wir haben ca. 1Kilometer zum Kindergarten und legen diesen Weg soweit es vom Wetter möglich ist auch meist mit dem Fahrrad zurück.
Erst diese Woche habe ich mit meinem 6 jährigen Sohn wieder mal alleine eine kl. Wandung gemacht – er hat es so genossen – ungeteilte Mama Zeit .
Ein gemeinsamer Fußweg ist schon was besonders – ich werde mir diese Ideen auf jeden Fall auch für den Herbst mit nehmen, denn da gibt es dann bei uns auch unser erstes Schulkind :-)!
Danke für deine tollen BLOG Einträge - #3Kerstin (Donnerstag, 28 Mai 2020 18:13)Lieber Papa, danke für die Wertschätzung! Ich hab es mit den Kindern langsam richtig schätzen gelernt, weil ich es eben aus meiner Kindheit nicht kannte – nur den Schulbus, weil wir ja weg vom Schuss lebten. Busfahren war auch manchmal lustig, aber Gehen toppt das einfach bei Weitem 😉
Gerlinde – yay! Schön, wenn du motiviert bist, da hast du dieses schöne Wegstück ja noch vor dir! - #4Bianca (Donnerstag, 28 Mai 2020 20:19)Jedes mal, wenn ich deine Zeilen lese egal ob über deine Kinder, Klima etc. denk ich mir immer wieder, was für eine wahnsinns Mutter/Frau bist. Du motivierst mich immer und immer wieder. Ich bin wirklich begeister von Dir und kann vieles lernen. Dafür Dank ich dir.
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